Ukraine und Pentagon-Leak: Die geheimen Dokumente im Überblick (2024)

Täglich werden neue Details aus der illegal angelegten Dokumentensammlung bekannt. Inzwischen ist auch der mutmassliche Täter entlarvt.

Andreas Rüesch

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Die Affäre um die illegale Veröffentlichung von Dokumenten des amerikanischen Verteidigungsministeriums zieht auch eine Woche nach Bekanntwerden des «Lecks» immer weitere Kreise. Täglich werden neue Enthüllungen aus der Dokumentensammlung bekannt. Die Regierung hat deren Echtheit nicht offiziell bestätigt. Aber das Pentagon spricht von einem sehr ernsthaften Risiko für die nationale Sicherheit. Diese ungewöhnliche Wortwahl unterstreicht, dass Washington höchst besorgt ist.

Ein Grund dafür ist, dass der Täter vermutlich noch wesentlich mehr Dokumente fotografiert oder abgeschrieben hat als bisher bekannt. Darauf deuten in der Nacht auf Donnerstag veröffentlichte Recherchen der «Washington Post». Der inzwischen verhaftete mutmassliche «Leaker» – ein Angestellter auf einer amerikanischen Militärbasis mit Zugang zu Datenbanken mit streng geheimen Dokumenten – soll bereits im vergangenen Jahr begonnen haben, in einer Chatgruppe mit seinem Wissen zu prahlen. Ab Ende 2022 habe er sogar Fotos von solchen Dokumenten gepostet, insgesamt Hunderte.

Wie viele Staatsgeheimnisse so auf der Plattform Discord, einem bei Fans von Computergames beliebten Online-Dienst, gelandet sind, ist nicht völlig klar. Denn die meisten Fotos solcher Dokumente sind inzwischen wieder aus dem Internet verschwunden.

Die «Washington Post» hat nach eigenen Angaben etwa 300 Dokumente sichten können, andere grosse amerikanische Medien wesentlich weniger. Der NZZ liegen ebenfalls rund 80 Dokumente vollständig oder in Auszügen vor. Der thematische Bogen dieser Akten ist sehr breit gespannt, wie der folgende Überblick zeigt.

Pentagon-Grafiken zum Stand des Krieges

Am 28.Februar und 1.März hat das amerikanische Verteidigungsministerium eine Bestandesaufnahme zum Ukraine-Krieg und zur westlichen Militärhilfe an Kiew vorgenommen. Die Informationen wurden in einer als geheim oder streng geheim eingestuften Sammlung von einem Dutzend Übersichtsgrafiken kondensiert.

Dies sind die wichtigsten Erkenntnisse daraus:

  • Truppenaufbau: Für die geplante Frühjahrsoffensive der Ukraine werden zwölf neue Kampfbrigaden gebildet. Die Nato-Staaten übernehmen die Ausbildung und Ausrüstung von neun dieser Verbände. Ein Dokument detailliert, welche Typen und welche Mengen von schweren Waffen die einzelnen Brigaden erhalten sollen.

    Der untenstehende Ausschnitt illustriert dies. Die betreffende Einheit erhält unter anderem 90 Schützenpanzer von Polen und Tschechien und 12 britische Panzerhaubitzen AS-90. Die Ausbildung erfolgt ebenfalls in diesen Ländern.

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  • Lücke bei Waffenlieferungen: Aus mehreren Dokumenten geht hervor, dass die Zusagen von Nato-Staaten für schwere Waffen den Bedarf noch nicht decken. Demnach sind für die zwölf neuen Kampfbrigaden 253 Kampfpanzer erforderlich, aber bis Anfang März waren nur 200 zugesagt. Aus öffentlichen Quellen war dieses Problem auch schon vor dem Datenleck bekannt.
  • Krise der Flugabwehr: Eine Pentagon-Analyse beleuchtet das Problem, dass die ukrainische Flugabwehr wachsende Lücken aufweist und Russland im zweiten Kriegsjahr doch noch die Lufthoheit über dem Land erlangen könnte. Ab Mai seien die Vorräte an Munition für die wichtigsten beiden ukrainischen Abwehrsysteme erschöpft, prognostiziert das Pentagon. Zum ausführlichen Bericht
  • Nato-Personal in der Ukraine: Aus einer der Pentagon-Grafiken geht hervor, dass sich 97 Angehörige militärischer Spezialkräfte aus Nato-Staaten in der Ukraine befinden. Unter ihnen seien 50 Briten, 17 Letten, 15 Franzosen, 14 Amerikaner und 1 Niederländer. Diese Staaten haben offiziell keine militärische Präsenz im Land zugegeben. Die Zahlen sind jedoch sehr gering und stellen keine sensationelle Enthüllung dar.
  • Geschwächte russische Armee: Russland hat nach Einschätzung des amerikanischen Militärgeheimdiensts DIA bis Anfang März 190 000 bis 223 000 Opfer (Tote und Verletzte) erlitten. Das deckt sich mit öffentlichen Angaben der USA. Bisher nicht publik war die Einschätzung, dass Russland innert eines Kriegsjahres zwei Drittel seiner Kampfpanzer verloren habe (2048 von 3028). Nur 364 von 474 eingesetzten russischen Bataillonen seien noch kampftauglich. Hingegen sei die Luftwaffe noch zu 92 Prozent intakt.

Ein Dokument wurde nachträglich verfälscht

Spekulationen darüber, dass das ganze Informationsleck eine russische Inszenierung war, haben sich nicht bewahrheitet. In einem Fall jedoch wurde ein Dokument nachträglich manipuliert, höchstwahrscheinlich von russischer Seite. Es handelt sich um eine Schätzung der Opferzahlen beider Kriegsparteien.

Im Original (links) ist die Rede von bis zu 43500 getöteten Russen, in der Fälschung (rechts) nur von maximal 17500. Dafür wurde im manipulierten Dokument die Zahl der ukrainischen Verluste als viermal so hoch dargestellt wie im Original – bis zu 71500 Todesopfer. Die Fälscher ersetzten einfach die russischen durch die niedrigeren ukrainischen Opferzahlen und überhöhten danach die ukrainischen Opferzahlen, indem sie Zehner und Einer vertauschten.

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Geheimdienstberichte über die Ukraine und Russland

Ein Teil der illegal veröffentlichten Dokumente stammt offensichtlich nicht aus den militärischen Planungsstäben des Pentagons, sondern aus den amerikanischen Geheimdiensten. Viele dieser zumeist kurzen Bulletins drehen sich ebenfalls um den russisch-ukrainischen Krieg.

  • Zweifel am ukrainischen Erfolg: Die amerikanischen Geheimdienste kamen in einer Gesamteinschätzung von Anfang Februar zur Prognose, dass die geplante ukrainische Gegenoffensive mit einiger Wahrscheinlichkeit keinen durchschlagenden Erfolg erzielen werde. Zu erwarten seien wohl nur bescheidene territoriale Gewinne. Verantwortlich dafür seien unter anderem Probleme beim Aufbau neuer Truppen, mangelnde Munition und starke Verteidigungsanlagen der Russen.
  • Erfolgreiche Spionage gegen Russlands Militär: Aus mehreren von amerikanischen Medien ausgewerteten Dokumenten geht offenbar hervor, dass die USA zum Teil verblüffende Detailkenntnisse über Interna des russischen Sicherheitsapparats besitzen. In manchen Fällen geht dies offenbar so weit, dass die USA die Ukrainer rechtzeitig vor bevorstehenden Luftangriffen warnen können.
  • Spannungen in der Moskauer Führung: Nach Angaben der «New York Times» vom Donnerstag berichteten amerikanische Geheimdienste in einem Dokument von Ende Februar über Anschuldigungen des russischen Geheimdiensts FSB gegen die Armeeführung. Diese habe die hohen russischen Verluste beschönigt. Zudem habe Präsident Putin ein Schlichtungs-Treffen mit Verteidigungsminister Schoigu und dem Wagner-Chef Prigoschin einberufen. Letzterer kritisiert die Militärführung immer wieder mit harschen Worten.
  • Unbestätigtes Gerücht über Intrige gegen Putin: Ein Geheimdienstbulletin spricht von einer angeblichen Verschwörung hoher Regimemitglieder gegen den Kremlchef Putin, konkret von einer Art Sabotage an der Militäroperation gegen die Ukraine. Putins Position sei auch geschwächt wegen einer Krebstherapie. Die Informationen stammen von zwei ukrainischen Funktionären und sind als blosse Gerüchte zu betrachten– umso mehr, als die für den 5. März vermutete «Sabotage» nie erfolgte und sich Klatsch über eine schwere Erkrankung Putins wiederholt als falsch herausgestellt hat.

Erkenntnisse zu Waffenlieferungen

Mehrere Dokumente drehen sich um die Lieferung von Waffen an Russland beziehungsweise die Ukraine.

  • Die paramilitärische Gruppe Wagner soll versucht haben, mithilfe der Regierung von Mali Waffen aus dem Nato-Staat Türkei zugunsten Russlands zu erwerben.
  • Ägypten soll mit Russland über die Lieferung von 40 000 Raketen sowie Artilleriegeschossen aus eigener Produktion verhandelt haben. Dies ist brisant wegen der engen Militärbeziehungen zwischen Ägypten und den USA. Zum ausführlichen Bericht
  • Serbien soll trotz seiner politischen Anlehnung an Russland die Lieferung von Waffen in unbekannter Menge an die Ukraine zugesagt haben. Offiziell gibt sich Belgrad in diesem Konflikt neutral und hat den Bericht dementiert.
  • Südkorea tut sich schwer mit dem amerikanischen Wunsch nach Lieferung von Artilleriemunition an die Ukraine. Dies geht aus einer geheimdienstlichen Kurzmitteilung von Anfang März hervor. Diese beruht auf «Signals Intelligence», also auf einer Überwachung von elektronischer Kommunikation. Der Hinweis auf eine amerikanische Abhöraktion hat zu Spannungen zwischen Washington und Seoul geführt.

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Sonstige Geheimdienstberichte

Weitere Dokumente betreffen Themen abseits des Ukraine-Krieges, sorgen aber ebenfalls für Schlagzeilen, besonders in den betroffenen Ländern:

  • In Israel sollen sich Teile der Führung des Geheimdiensts Mossad für Proteste gegen die geplante Justizreform der Regierung Netanyahu ausgesprochen haben. Sie hätten auch Protestaktionen von Mossad-Vertretern befürwortet und wiederholt zu konkreten Aktionen aufgerufen. Diese Kurzmitteilung des Geheimdiensts CIA beruht ebenfalls auf elektronischer Überwachung. Sie ist brisant, weil sich der Mossad innenpolitisch neutral zu verhalten hat.

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  • Der Uno-Generalsekretär António Guterres wurde ebenfalls abgehört. So erhielten die Geheimdienste Kenntnis von einem Uno-internen Gespräch Guterres', in dem es um dessen Reise nach Kiew ging.
  • Ungarns Regierungschef Viktor Orban soll die Vereinigten Staaten zu seinen drei grössten Gegnern zählen. Dies geht aus einer weiteren mutmasslichenMeldung der CIA hervor. Orban soll die Äusserung bei einer Strategiesitzung seiner Partei Ende Februar gemacht haben.
  • Nicaragua soll mit China über den Bau eines Tiefwasserhafens an der Karibik-Küste verhandeln. Amerikanische Geheimdienste hegen den Verdacht, dass das Regime in Managua der chinesischen Marine die Nutzung dieser Anlage anbieten würde.
  • In Kanada soll ein Pipeline-Betreiber Opfer eines Angriffs prorussischer Hacker geworden sein. Die Hacker hätten dem russischen Geheimdienst gemeldet, sie seien in die Kontrollsysteme der Energiefirma eingedrungen und könnten nun den Druck in der Pipeline steuern und ein Gasverteilungszentrum lahmlegen. Vom «Wall Street Journal» zitierteIndustriefachleute halten dies für übertrieben.

Mitarbeit: Seda Motie und Forrest Rogers.

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